Warum sind die Zeiten so unrealistisch? Geben Mitarbeiter sich keine Mühe?

Preisner: Warum sollten sie? Für gute Zeiterfassung wurde noch keiner befördert. Ganz im Gegenteil: Zeiterfassung hält einen von genau der Arbeit ab, auf die man Feedback bekommen kann. Das Ironische ist, dass selbst unmotivierte Zeiterfassung Zeit kostet. Obwohl man am Ende eines Tages keine Ahnung mehr hat, wie lange man woran gearbeitet hat, muss das Ganze ja halbwegs realistisch aussehen. Und dieses Kopfzerbrechen liegt nur den wenigsten. Versuchen Sie mal sich zu erinnern, was Sie gestern gegessen haben – und dann schätzen Sie die Nährstoffverteilung. Viel Glück.

Das Problem liegt also eher in der Zeiterfassung als im Controlling?

Preisner: Das unterscheidet sich je nach Agentur. Gibt es einen CFO, einen Controller oder zahlenaffine Geschäftsführer ist das Controlling meistens sehr gut. Dafür fehlt in diesen Fällen oft das Bewusstsein für die schlechte Datenqualität. Gerade in größeren Agenturen kennt nicht jeder den Zeiterfassungsprozess aus der Nähe und weiß, wie genervt Mitarbeiter davon sind. Umgekehrt ist das Bewusstsein für die ungenauen Schätzungen natürlich voll da bei Chefs, die näher an ihren Mitarbeitern arbeiten oder sogar selbst Zeiten erfassen. Dafür fehlt diesen operativ eingebundenen Chefs oft die Zeit, sich ausreichend dem Controlling zu widmen.  

Was wäre Ihre Empfehlung für Agenturchefs ohne Leidenschaft für Zahlen?

Götz: Ein automatisch generierter, aktueller Soll-Ist Vergleich der Projektstunden je Team oder Mitarbeiter. Die wertvollste Information ist immer, was die realen Stunden auf den Projekten sind. Denn so lässt sich nicht nur später ermitteln, welcher Reingewinn pro Projekt übrig bleibt. Es ermöglicht auch bereits während des Projekts planerisch zu reagieren und Maßnahmen zu ergreifen oder Kunden gegebenenfalls zeitnah und während des Prozesses Feedback zum Budget zu geben. Zudem bekommt man eine immer bessere Datenbasis für Projekte und kann künftige Soll-Stunden immer besser kalkulieren, um profitabel zu arbeiten.

Ist der Stundensatz nicht überholt? Laut Kritikern verleitet er Agenturen dazu, ihre Leistungen zu günstig anzubieten.

Preisner: Da verwechseln die Kritiker bewusst Controlling und interne Kalkulation mit dem Pricing. Das ist nämlich Verhandlungssache. Dass man sich in Verhandlungen keinen Gefallen tut, wenn man einen Zettel mit Stundenmenge mal Stundensatz herausholt, würde ich unterschreiben. Denn es lenkt vom Wert des Angebots ab, lädt zu Preisvergleichen ein und suggeriert eine Austauschbarkeit von Leistungen, die vollkommen die individuellen Stärken der Agentur ausblendet.

Götz: Das mag schon sein, geht aber leider an der Realität der meisten Agenturen vorbei. Da bei vielen Unternehmen der Einkauf mittlerweile eine essentielle Rolle bei der Vergabe der Projekte spielt, sind oftmals die Stunden der einzige gemeinsame Nenner, der vermeintlich vergleichbar ist. Der Wettbewerb ist groß und diese Art von Vergleich gibt Kunden eine gewisse Verhandlungsmacht. Man muss genau wissen, welche Stellschrauben und Ressourcen profitabel sind und welches Zeitmanagement benötigt wird, um eine profitable Marge zu generieren. Viele haben diesen Überblick nicht und überleben nur dank unbezahlter Überstunden.

Preisner: Man sollte seine Margen auf jeden Fall kennen und sich fragen: Lohnt es sich diese Zeit für das Projekt zu investieren? Wenn nicht, kann man dann immer noch besser entscheiden, auf welchen Preis man besteht oder welche Zeit man maximal investiert. Am Ende bringen mir vielleicht drei günstige Projekte im Hinblick auf meine Fixkosten mehr als ein einziges hochpreisiges Projekt, das mich voll auslastet.

Also ist die Auslastung das größte ungenutzte Potenzial vieler Agenturen?

Götz: Zumindest ein großes Potenzial. Interessant ist insbesondere die Frage, wie viel Zeit in administrative Prozesse und interne Projekte fließt anstatt in bezahlte Projekte. Hier fehlt es den meisten an Transparenz. Die meisten Agenturlenker sind überrascht, wenn sie die ersten Auswertungen sehen und teilweise über 50 Prozent der Stunden auf Teamführung oder interne Besprechung verbucht wurden. Oftmals vor allem von Führungskräften. Also den teuren Ressourcen.

Preisner: Der Durchlauf an bezahlten Projekten könnte in vielen Agenturen wesentlich höher sein. Und das soll wirklich nicht bedeuten, dass zu wenig gearbeitet wird. Im Gegenteil: Es gibt viel zu oft Überstunden auf Projekten, die kein Budget mehr haben. Und dann werden auf der anderen Seite wieder halbe Tage ohne Aufgabe abgesessen, weil man noch nicht auf neue Projekte gebrieft ist – da niemand wusste, dass man Kapazitäten hat. Bei einigen läuft die Ressourcenplanung noch auf Zuruf oder über ein Whiteboard. Es gibt keinen sinnvollen Grund, das nicht zu digitalisieren und transparent zu machen.

Götz: Genau. Nur wer das Verhältnis zwischen bezahlter und nicht bezahlter Auslastung transparent macht und regelmäßig überprüft, kann erfolgreich wirtschaften.


Niclas Preisner ist seit Juni 2015 Geschäftsführer des SaaS-Anbieters timeBro, dessen automatische Zeiterfassung bei Agenturen wie Denkwerk im Einsatz ist. Zuvor hat er als junger Kreativer seine Projektzeiten bei Serviceplan Hamburg und BBDO Berlin erfasst. Seit dem Beginn der Corona-Krise beobachtet er noch stärker den Arbeitsmarkt.

Kerstin Götz ist seit 2017 Geschäftsführerin bei Troi. Die SaaS-Branchen-Lösung wird von Agenturen wie BBDO, Possible und Dojo eingesetzt. Davor war sie als Führungskraft und Geschäftsführerin über 20 Jahre in Agenturen tätig.


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Autor: Marina Rößer

Marina Rößer hat in München Politische Wissenschaften studiert, bevor sie ihre berufliche Laufbahn in einem Start-up begann und 2019 zu W&V stieß. Derzeit schreibt sie freiberuflich von überall aus der Welt, am liebsten in Asien, und interessiert sich besonders für Themen wie Nachhaltigkeit und Diversity.