Es wird nie wieder wie es war 

Was nun alle Menschen umtreibt, ist die Frage: Was passiert wirklich? Wie lange wird dieser Zustand andauern? Wie geht das Ganze aus? Wie sieht unsere Welt nach der Pandemie aus? Darauf habe auch ich keine Antwort. Aber ich will versuchen, diese Fragen wenigstens für unsere Branche, insbesondere für die Medien, einzuschätzen.

Dazu müssen wir eine Annahme treffen. Dass wir in vier Wochen zu unseren Routinen zurückkehren und weitermachen, als wäre nichts geschehen, ist unrealistisch. Nehmen wir daher an, dass nach Ablauf der Osterferien Mitte April die Krise nicht beendet ist. Nehmen wir an, der relative Stillstand dauert eher vier Monate als vier Wochen, also bis Juni und damit bis an die Ferienzeit heran. 

Anfang März begannen die ersten Unternehmen, ihre Kampagnen und Mediaspendings zu stoppen. Die erste war verständlicherweise die Touristikbranche - alle außer „Visit Greece“ („Griechenland, ein Reiseziel für jede Jahreszeit“), die noch Mitte März auch nach Schließung der europäischen Grenzen bei Twitter weiter warben. Einen Kommentar dazu erspare ich mir.

Aktuell berichten TV-Vermarkter von massiven Stornierungen, die aus allen Branchen kommen. Selbst PKW-Hersteller, die im Fernsehen nicht gerade auf Spontankäufe hoffen, sondern dort eher mittelfristige Markenpflege betreiben und ohnehin auf einen miesen Jahresstart zurückblicken, halten einen weitgehenden Kampagnenstopp offenbar für das richtige Signal. Noch deutlicher wird der Newsweek-Kolumnist Prof. Seth Abramson mit einem Post auf Twitter: „Percent of all TV commercials that are now irrelevant: 91.“

Ob sie ihr Mediageld in spätere Monate verschieben, ist unsicher. Wohl kaum in den Sommer, falls die Krise bis dahin vorbei ist (das ist sie nicht). Auch nicht in den Herbst, denn dort haben die Werber schon (besser: noch) ihre Etat-Peaks platziert. Nein, das Geld ist futsch. 

Für die Kinowerber gilt das zu 100 Prozent, denn dort wird bekanntlich nach Eintrittskarten abgerechnet. Für sie ist jedes geschlossene Kino der wirtschaftliche Worst Case.

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Wenn Werbung den Menschen ausweicht

Verschieben die Unternehmen ihr Geld in andere Medien? Raus aus Print und TV, hinein in Online und Außenwerbung, sprich DOOH? Das ist derzeit nicht erkennbar. Zumal mehr als die Hälfte der Online-Händler selbst über Umsatzeinbußen klagen. Während zwar die Onlinenutzung ansteigt, behalten die Endverbraucher in unsicheren Zeiten ihr Geld bei sich. Gekauft werden die klassischen FMCGs: Lebens-, Putz- und Körperpflegemittel - und eben Toilettenpapier. 

Erschwerend für Onlinemedien kommt hinzu, dass Werbekunden derzeit die digitalen Nachrichtenportale meiden, weil Corona-Umfelder als schlechtes Umfeld erscheinen. Die Situation hatten wir in Reklame-Deutschland noch nie: Die Werbung weicht den Menschen regelrecht aus. Diese Werbebranche ist ein seltsames Wesen. Aber noch mehr Online-Werbemüll wäre ohnehin nicht so ganz die erhoffte Lösung.

Die lineare TV-Nutzung steigt ins Astronomische. Guido Modenbach von SevenOne Media postet täglich auf Twitter die neuesten Sehdauer-Steigerungsraten. Sie liegen in der Größenordnung von 30+ Prozent. Doch angesichts der Stornierungen wird sich die Freude darüber in Grenzen halten. Die Situation könnte paradoxer nicht sein: Mitten in die Diskussion um das Ableben des linearen Fernsehens liefert TV - und die Kunden rennen davon. Wer sich dagegen im Herbst 2019 mit den raren Sendeplätzen bei ARD und ZDF eindeckte, der lacht sich ins Fäustchen.

Die Zeitungen profitieren von einigen „Danke“-Anzeigen des Handels (Lidl: „Wir sind für euch da!“). Hilft jedoch nichts, denn sie rechnen mit einem Einbruch der Anzeigenerlöse um 80 Prozent. Die Zeitschriften leben nur ein paar Wochen länger aufgrund der Stornofristen. Danach werden sie noch dünner und unprofitabler als ohnehin schon. Das weitaus größere Problem entsteht für sie durch den schwindenden Einzelverkauf. Die Kioskverkäufe sinken derzeit ins Bodenlose - und man muss bezweifeln, dass sie sich nach der Krise auf das alte Niveau erholen.

Eisiger Wind in Media-Deutschland

Die lokalen Radiosender erwischt es kalt. Ihnen brechen die lokalen Werbetreibenden weg, die ein Drittel ihrer Einnahmen ausmachen. Sie rechnen alleine im April mit einem Umsatzrückgang von 50 Prozent. Die von Werbeerlösen unabhängigen ARD-Sender ficht das nicht an. Kleine, private Sender kann es schnell in die Insolvenz treiben.

Bleiben OOH und DOOH, denen in diesem Jahr ein weiterer, kräftiger Anstieg ihrer Umsätze vorhergesagt wurde. Die mobile Zielgruppe, die die Außenwerbung normalerweise mit abenteuerlichen Reichweiten versorgt, befindet sich daheim. Und fehlende Reichweiten und Kontakte bedeuten hier ganz simpel: fehlende Einnahmen.

Soweit, so schlecht. Nun konkreter zu den Konsequenzen für die Spendings. Hierfür müssen wir erneut eine Annahme treffen. Nehmen wir an, die Werbespendings rutschen im 2. Quartal um 30-35 Prozent ab und im 3. Quartal noch einmal um 20-25 Prozent. Dann fehlen dem deutschen Medienmarkt Nettoeinnahmen von 2,0-2,5 Milliarden Euro. Insgesamt 15 Prozent. Selbst wenn es „nur“ 10 Prozent würden, eine Katastrophe.

Ist das abwegig? Während der Finanzkrise 2008 brach der Werbemarkt unmittelbar um 7 Prozent ein. Der ZAW geht davon aus, dass die Corona-Folgen für die Branche „dramatischer“ als damals sein werden. Dann wäre die Annahme, der Werbemarkt bräche um nur 10 Prozent ein, geradezu optimistisch. Wenn wir der Realität brutal ins Auge schauen - und das sollten wir im eigenen Interesse tun - liegen wir mit einem Einbruch der Nettoeinnahmen von 15 Prozent vermutlich richtig. 

Genau genommen ist meine Rechnung sogar angenehm vorsichtig. Denn sie hofft, dass sich der Werbemarkt im 4. Quartal 2020 wieder erholt. Die Prognosen der Virologen und Politiker gehen jedoch schon heute davon aus, dass sich das öffentliche Leben frühestens in einem Jahr wieder erholt haben wird. Also belassen wir es besser bei minus 15 Prozent und mindestens 2 Milliarden Euro, die uns abhandenkommen.

Der gefeierte Kreativ-Star Amir Kassaei bringt  (quasi aus dem selbst erklärten Ruhestand) die Situation auf den Punkt: „Corona is like a fire accelerator. All companies which were not ready for the 21st century will disappear much faster. Sometimes you need extraordinary circumstances to build a new system.“ Ein Brandbeschleuniger, der sein Unheil über die Medien ausbreiten wird.

Ritt auf der Rasierklinge

Die Zeitungs- und Zeitschriftenverleger vollziehen seit Jahren einen Ritt auf der Rasierklinge. Einen plötzlichen Einbruch der Werbeeinnahmen würden einige nicht überleben. Die Prognose des Eichstätter Journalismus-Professors Klaus Meier, wonach in Deutschland im Jahr 2033 die letzte gedruckte Zeitung erscheint, muss nach vorne korrigiert werden. Manche Verleger werden schon deshalb bald die Notbremse ziehen, weil ein qualvolles Sterben einfach keinen Sinn ergibt.

Erinnern Sie sich, als Facebook US-Zeitungen drohte und ankündigte, an ihrem Totenbett keine Sterbehilfe zu leisten? Dieses Bild des Totenbetts geht einem so schnell nicht aus dem Kopf. Nur dass am Bett nicht Facebook warten wird, denn die Plattform steht - auch ohne vom Virus befallen zu sein - vermutlich noch vor 2033 selbst vor dem aus.

Doch kurz zurück zu den Verlegern. Diejenigen, die an lokalen Radiosendern beteiligt sind, würden auch hier die Versorgung kappen. Es wäre das vorzeitige Ende des lokalen Rundfunks in Deutschland.

ARD und ZDF sind - das bedarf keiner weiteren Erläuterung - die Einzigen im TV- und Radiomarkt, denen Corona und die Folgen nichts anhaben können. Die privaten TV-Sender stehen jedoch vor einem Reality-Drama, das ihre Drehbuchautoren dramatischer nicht hätten schreiben können. Börsennotierte wie ProSiebenSat.1 verlieren Income und Wert und damit die Ressourcen für künftige Programme. Ein Teufelskreis. 

Die Situation für IP in Köln ist ungleich schwieriger, denn die Bertelsmann-Mutter kämpft mit seinem TV- und Print-Portfolio an gleich zwei Fronten. Einigermaßen unbeschadet über die Runden kommen vielleicht kleine Sender mit klarer Positionierung und konkurrenzloser Seherschaft - wenn ihre Investoren mitspielen. Im TV-Markt bleibt am Ende kein Stein auf dem anderen.

Im Jahr 2021 wird sich unsere Medienlandschaft einschneidend verändert haben. Die Printmedien trifft es volle Breitseite. Geradezu erschreckend sind die Auswirkungen auf den unabhängigen, kritischen Journalismus, der nur in die schnelllebigen, auf Instant-Klickraten ausgerichteten und wenig werterhaltenden, digitalen Formate ausweichen kann. Retten kann die „Vierte Gewalt“ nur der Staat selbst, in welcher Form auch immer.

Da klingt es wenig beruhigend, dass Facebook als Plattform für Fake News und Hate Speech ebenso Federn lassen wird. Vermutlich wird die OWM Facebook nach dem Ausgang der erneuten Klage wegen dubioser und irreführender Reichweitenlügen ohnehin nicht mehr in den Joint Industry Committees haben wollen. Sondern selbst vor die Tür setzen.

Das Corona-Virus klopft nicht an die Tür. Es sitzt längst mit am Küchentisch und frisst den Medien gierig die Werbeeinnahmen weg. Völlig anders als gedacht haben wir eine Disruption epischen Ausmaßes vor Augen.

Warnruf an die Werbetreibenden

Dieses Szenario gefällt Ihnen nicht? Kann ich verstehen. Beim Schreiben ist mir an manchen Stellen der Spaß ebenso vergangen. Vielleicht verstehen Sie diesen Worst Case aber auch als das, was er ist: als Warnruf. Als Aufforderung, mit Ihren (nicht stornierten) Werbegeldern wenigstens die Medien zu erhalten, auf die Sie auch in den nächsten Jahren angewiesen sein werden. Welche das sind, überlasse ich gerne Ihrer Bewertung.

Aber… wo es ein Worst Case-Szenario gibt, muss es (Yin und Yang) auch einen Best Case geben. Hier ist er - denn es hängt auch von uns ab!

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Autor: Thomas Koch

Eine Ikone der Branche. Der Agenturgründer und frühere Starcom-Manager kennt in der Media-Branche alles und jeden. Thomas Koch ist Mr. Media.